Dr. Antje Haas zu den Sparmaßnahmen des GKV-FinStG

„Strukturelle Lösungen sind unterrepräsentiert“

Berlin (opg) – Im zweiten Teil des Interviews mit Dr. Antje Hass geht es um die Verwurfregelung und die Finanzwirkung des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes (GKV-FinStG). Außerdem erläutert die Abteilungsleiterin Arznei- und Heilmittel des GKV-Spitzenverbandes, warum die Krankenkassen Handlungsbedarf bei Arzneimitteln im Krankenhaus sehen. Haas kritisiert: „Die teuersten Arzneimittel bewegen sich im stationären Bereich. Dort haben wir jedoch keine Transparenz über die verwendeten Mengen.“

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opg: Das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz enthält unter anderem eine Regelung zum Thema Verwurf – was hat es damit genau auf sich?

Haas: Zukünftig soll die Wirkstoffmenge einer Packung, die nicht Patienten zugute kommt, sondern verworfen werden muss, preismindernd berücksichtigt werden. Verwurf entsteht bei nicht therapiegerechten, also zu großen Abpackungen. Insbesondere dann, wenn nach Körpergewicht oder Körperoberfläche dosiert wird und der Anbruch wegen zu kurzer Resthaltbarkeit nicht weiterverwendet werden kann. Das kann zum Beispiel bei Arzneimitteln vorkommen, die sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern angewendet werden. Für letztere gibt es nicht unbedingt therapiegerechte Packungsgrößen auf dem Markt. Wenn dann für kleine Kinder viel zu große Packungsgrößen verordnet werden müssen, kommen unter Umständen sehr hohe Vorwürfe zustande.

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„Verwurf entsteht bei nicht therapiegerechten, also zu großen Abpackungen.“ © stock.adobe.com, RRF

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opg: Können Sie uns ein Beispiel nennen?

Haas: Lumasiran ist, denke ich, ein besonders drastisches Beispiel. Es gibt es nur eine einzige Packung und Wirkstärke und es fallen je nach Körpergewicht bis zu drei Viertel als Verwurf an. In einem solchen Fall muss die GKV fast 400.000 Euro pro Jahr allein für die therapeutisch nicht nutzbare Wirkstoffmenge zahlen. Mehr also für den Verwurf als für die verabreichte Wirkstoffmenge. Wenn der Unternehmer eine weitere, für Kleinkinder passende Wirkstärke, produzieren würde, könnte der Vorwurf deutlich reduziert werden. Wir sehen therapiegerechte Packungsgrößen als eine Verpflichtung für die Unternehmen an.

opg: Sind Sie mit der Regelung im GKV-FinStG zufrieden?

Haas: Es gibt etliche Arzneimittel mit therapiegerechten Packungsgrößen. Es geht also. Wir verstehen nicht, warum man im Gesetz nun eine Relevanzschwelle von 20 Prozent integriert hat. Wieso sollte die GKV die Erstattung von 20 Prozent therapeutisch nutzloser Mengen hinnehmen? Neben der nicht zu rechtfertigenden Finanzierung dessen, was im Müll landet, schadet Verwurf auch Klima und Umwelt. Die Verantwortung dafür liegt beim Unternehmer, der die Packungsgröße als Teil der Zulassung beantragt. Es sollten stärkere Anreize geschaffen werden, dass er diese Verantwortung vollständig wahrnimmt. Insofern geht die Regelung in die richtige Richtung.

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opg: Wie schätzen Sie die Finanzwirkung des GKV-FinStG ein?

Haas: Zunächst unser Eindruck zu den kalkulierten Finanzwirkungen, ob und wie diese umgesetzt werden können. Schaut man sich die verschiedenen Kategorien an, dann erscheinen Regelungen wie der Hersteller- und Apothekenabschlag relativ sicher. Bei der Rückwirkung des Erstattungsbetrages wird es schon schwieriger. Auch bei den Leitplanken ist nach den Schiedsstellenentscheidungen der letzten Wochen die Finanzwirkung nicht sicher zu erreichen, das gleiche gilt für das Stichwort 'Ausgleich' der überzahlten Handelsmargen. Insbesondere bei der verpflichtenden Preis-Mengen-Regelung ist das angestrebte Ziel ohne Nachbesserung nicht zu erreichen. Ganz optimistisch bin ich dagegen bei den Regelungen zu Kombinationstherapien, Orphans und dem Verwurf, mit Ausnahme der 20-Prozent-Schwelle.

opg: Ihre Gesamtbilanz?

Dr. Antje Haas (Archivaufnahme) © pag, Fiolka

Haas: Der Gesetzgeber strebt mit den Maßnahmen des FinStG ein Einsparvolumen von bis zu zwei Milliarden Euro an. Ebenfalls zwei Milliarden Euro beträgt aber bereits bislang jedes Jahr der Ausgabenaufwuchs für AMNOG-Arzneimittel. Das bedeutet: Im allerbesten Fall, wenn alle Instrumente wie vom Gesetzgeber geschätzt, funktionieren, kann uns dieses Gesetz eine Stabilisierung der Finanzen für neue patentgeschützte Wirkstoffe für ein Jahr verschaffen – länger nicht. Beeinträchtigend kommt aber hinzu, dass der zusätzliche Herstellerabschlag bis 2023 befristet ist, das Preismoratorium bis 2026.

opg: Sind das die richtigen Maßnahmen?

Haas: Die getroffenen Maßnahmen werden nicht ausreichen. Damit sie nicht nur eine Überbrückung für kurze Zeit bieten, braucht es strukturelle Lösungen. Diese sind in diesem Gesetz eindeutig unterrepräsentiert. Wir haben bei den Orphans keine Vollbewertung und mit den Leitplanken eher indirekte Anreize für bessere Belege therapeutischer Überlegenheit. Die wie Notbremsen rasenmäherartig und undifferenziert wirkenden höheren Herstellerabschläge verschaffen nur ein Jahr Linderung. Wenn wir in unserem Land den raschen und vollständigen Zugang zu neuen Arzneimitteln für die Zukunft aufrechterhalten wollen, müssen wir die Preisdifferenzierung nach therapeutischem Wert noch viel konsequenter umsetzen. Nur das wirkt nachhaltig – quasi aus sich selbst heraus und nicht nach Kassenlage. Wir wollen keine vierte Hürde, wir wollen keine Leistungseinschränkungen und deshalb müssen wir bei der evidenzgestützten Preisdifferenzierung stärker werden. Nur das kann eine rein budgetorientierte Ausgabendämpfung in den Hintergrund treten lassen.

opg: Handlungsbedarf sehen die Krankenkassen auch bei dem Thema Arzneimittel im Krankenhaus – inwiefern?

Haas: Ganz kurz gesagt: Die teuersten Arzneimittel werden im stationären Bereich angewendet. Dort haben wir jedoch keine hinreichende Transparenz über die verwendeten Mengen. Selbst dort nicht, wo es Zusatzentgelte gibt. Bis die Daten geprüft vorliegen vergehen bis zu 21 Monate. Und wo die Arzneimittelkosten in die DRG eingehen, sind wir gänzlich blind. Für die Zwecke der AMNOG-Verhandlungen besteht keine explizite Nutzungserlaubnis für die Krankenhausdaten.
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Gen- und Zelltherapien „werden inzwischen nicht mehr nur gegen ganz seltene Erkrankungen entwickelt.“ © stock.adobe.com, Sergey Nivens

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opg: Und mit den neuen Gen- und Zelltherapien wird das Ganze noch spannender, oder?

Haas: Solche Therapien werden inzwischen nicht mehr nur gegen ganz seltene Erkrankungen entwickelt. Im Bereich der Hämophilie sind wir bereits bei mittleren Häufigkeiten und auch in anderen Indikationen wie Stoffwechsel- und Krebserkrankungen gehören Gen- und Zelltherapien inzwischen dazu. Wenn es dann bspw. um vertragliche Preis-Mengen-Regelungen geht, läuft das Instrument aber ins Leere, wenn wir überhaupt keinen Informationsrückfluss in akzeptabler Frist haben. Heißt, uns fehlen Informationen zu abgesetzten Mengen, Zahl der behandelten Patienten, der Indikation. Hier sind wir für das Monitoring auf die Absatzdaten der Unternehmer angewiesen oder die Krankenkassen müssen Daten händisch zusammentragen.